Man sieht nicht nur mit der Leber gut – Chinesische Medizin bei Altersweitsichtigkeit

Der Artikel erschien zuerst im Yin Yang Magazin des TCM Fachverbandes Schweiz 3/2019.

Der bekannte Lehrsatz „Das Sinnesorgan der Wandlungsphase Holz ist das Auge“ kann weiter differenziert werden. Denn das Auge kann in die Bereiche der fünf Wandlungsphasen wiederum eingeteilt werden:

Im Zentrum des Geschehens findet sich die Pupille mit dem Bezug zum Wasser. Die Iris verkörpert den Holzaspekt und auch der Sehpurpur steht in Zusammenhang direkt mit der Leber. Die Skleren spiegeln die Energien vom Metall wieder. Die rötlichen Augenwinkeln beziehen sich auf das Feuer mit Herz und Dünndarm. Die Wandlungsphase Erde findet sich in den Augenlidern wieder.

Gutes Sehen bedeutet nicht nur eine ausreichende Sehschärfe, Farbensehen und räumliches Sehen, sondern auch in brenzligen Situationen den Überblick behalten zu können. Eine gute Generälin (Holzenergie) behält die Übersicht und den richtigen Riecher (Metallenergie).

Bei der Altersweitsichtigkeit kommt zum Tragen, dass mit dem Älterwerden unsere Essenz, „Jing“, abnimmt. Dies ist ein physiologischer Prozess und tritt bei allen Menschen auf. Wo und wie sich die schwindende Energie manifestiert, ist von der individuellen Konstitution, den äußeren Bedingungen und dem Lebenswandel abhängig.

Für die Frage der Sehschärfe spielt das Verhältnis der Wasser- zur Holz-Energie eine besondere Rolle.

Für das Wachstum und die Beweglichkeit (auch der Augenmuskeln) braucht die Holz-Energie Wasser. Das Wasser ist die Mutter des Holzes im Erzeugungszyklus.

Bei einem Mangel von Wasser im Holz kann die geschwächte Mutter ihr Kind nicht gut ernähren. Bei einem Yang-Mangel der Niere reicht das sogenannte „Shen-Licht“, sprich das Sehvermögen, nicht bis in die Weite. Es kommt zur Kurzsichtigkeit.

Liegt ein Yin-Mangel der Niere vor, sind die Strukturen des Auges – Linse, Netzhaut, Sehnerv – geschwächt. Das „Shen-Licht“ kann nicht für die Nähe gebündelt werden – es kommt zur Weitsichtigkeit (1).

Ein Zuviel des Wassers existiert eigentlich nicht. Es gibt eine gewisse Verbissenheit , wenn der Seelenaspekt des Wassers, der Wille, über die Ausdrucksfähigkeit und die Flexibilität der Holzenergie dominiert. Dann werden Menschen und auch Linsen zu starr und die Sicht zu unflexibel. Dies sind Menschen, die auf dem Gehweg keinen Milimeter zur Seite weichen vermögen (nicht nur wenn sie sich im Recht fühlen).

Feuchtigkeit kann sich wie ein Zuviel des Wassers anfühlen, ist aber ein Mangelsymptom der Milzenergie: Die Flüssigkeiten werden nicht absorbiert und transformiert, sondern durch eine überbelastete Milz bleiben sie liegen und dicken quasi ein (2).

Das Sehen hat nach der TCM zwei Richtungen: die Aufnahme von Außen und das Strahlen von Shen von Innen nach Außen. Eine getrübte Sicht geht so oft mit einer getrübten Stimmung einher. Es fehlt das lustvolle auf das Neue schauen oder der Blick ist zurückgerichtet. Das könnte auch ein Ansatz für die Altersweitsichtigkeit sein: den Fokus auf das Hier und Jetzt zu richten, Offenheit zu kultivieren trotz Erfahrungen des Verlustes (die sich ja zwangsläufig im Alter häufen). Auch sich selber mit wohlwollenden Blicken betrachten, wenn der Verlust der Jugendlichkeit auch offensichtlicher wird. Dann bleibt unsere Sichtweise vielleicht so scharf, dass wir an jedem neuen Lachfältchen den lustigen Abend davor ablesen können. Jede Zelle nimmt auf, entscheidet, transformiert und gibt ab – das ist der lebendige Prozess. Dabei kann die Akupunktur körperlich und seelisch unterstützen:

Akupunktur

Leber 3 „Großes Hindurchschießen“ (3)

Dies ist ein Meisterpunkt für die Augen und den Erhalt der Sehkraft, da er so wichtig für die gesamte Energiezirkulation und den Aufbau des Leberblutes ist. Es lohnt sich, in Eigenmassage über den Tag oder bei der Computerarbeit immer wieder diesen Punkt zu massieren. „You can´t touch Liver 3 without nourishing the liver blood“, sagte meine Shiatsulehrerin.

Leber 8 „Quelle an der Krümmung“

An dem Wasserpunkt der Leberleitbahn kann die Stärkung des Holzenergie durch das Wasser gefördert werden. Eine durch Exzesse, viele Medikamente und viel Alkohol angestrengte Leber braucht Flüssigkeiten, um sich zu regenerieren. Die überhitzte Leber (natürlich auch durch Emotionen!) braucht Kühlung und leichte Bewegung, wenn aus dem Druck Feuchte Hitze entstanden ist.

Gallenblase 1 „Orbitalknochen“

Prima passt zu diesem Punkt Yintang (s.u.). Die schlechte Sicht ist auch deshalb ein Thema der Gallenblase, weil Entscheidungen davon abhängen, wie viel wir sehen können. Dabei sei betont:„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ und die Gallenblase hat den direkten Bezug zum Herzen durch ihre gegenüberliegende Lage auf der Organuhr. Das Sehvermögen korreliert so mit der Entscheidungsfähigkeit. Die Gallenblase sollte auch kräftig genug sein, um die Augen zu versorgen. Adjudativ bietet sich San Jiao 22 an.

San Jiao 22 „Knochenhöhle der Harmonie“

Hier treffen sich Gallenblase und Dünndarm und so werden alle drei Yang-Meridiane verbunden. Die Energie wird zur Gallenblase geleitet, die eben an Gallenblase 1 beginnt. Dieser Punkt fördert die Harmonie zwischen Innen und Aussen: sich gesellschaftlich einzupassen ohne sich zu verbiegen, genug Sehen ohne von den Eindrücken erschlagen zu werden, aber auch ausreichend Sehen, um die richtigen Entscheidungen fällen zu können (Gallenblase).

Gallenblase 15 „Tränenüberströmt am Kopf“

Wenn die Gefühle hin- und herwehen und mensch sich nicht im Gleichgewicht fühlt, kann auch die Sicht sich schwerer fokussieren. Dieser Punkt stärkt die Gallenblase und verankert sie zusammen mit Gallenblase 41. Er kann gut mit erdenden Punkten wie Magen 36 kombiniert werden.

Gallenblase 16 „Augenfenster“

Manchmal sind wir zu blockiert, um umsichtig zu sein. Der Blick ist eingeengt in vielerlei Hinsicht. Dann hilft dieser Punkt, mehr Gelassenheit zu entwickeln.

Gallenblase 20 „Wind-Teich“

Ein wichtiger Punkt für die Verbindung zwischen Kopf und Körper – in beide Richtungen. Wohltuend lösend behandelt bei Kopfschmerzen erleichtert er auch die Passage von Qi zu den Augen.

Gallenblase 37 „hell und klar“

Der Luo-Punkt leitet klares Yang zum Kopf und unterstützt so das fokussierte Sehen und die Fähigkeit zur Konzentration. Er stärkt eine geschwächte Gallenblase und hebt auch die Stimmung. Mit neuem Mut nach vorne schreiten, das Ziel anvisiert – dabei hilft Gb 37.

Gallenblase 43 „Verengter Strom“

Dieser Punkt entstaut eingezwängte Wasserenergie, die deshalb das Holz nicht entsprechend versorgen kann und somit das Holz spröde geworden ist. Ein guter Punkt, wenn die Sicht bei Stresssituationen und nach Kaffee sich verschlechtert oder mit Einschränkungen im Bewegungsapparat einhergeht. Eher für Menschen, die sich zu schnell aufregen und sich nicht so gut zentrieren vermögen.

Blase 1 „Strahlende Augen“

Vom Dünndarm bekommt dieser Punkt der längsten Leitbahn die Energie: Er braucht die Klarheit der Entscheidung, wohin die Reise des Herzens gehen soll. Die Herzensentscheidungen werden ins Alltägliche übersetzt. Das braucht Schwung, um nicht in guten Vorsärtzen zu versacken und das Wesentlich nicht mehr erkennen zu können. Fließen bei seiner Behandlung Tränen– gerne als Akupressur täglich von den KlientInnen selber ausgeführt – löst und klärt das auch die Sicht.

Blase 2 „Bambus büscheln“

Hier wird die Wirkung von Blase 1 verstärkt und dieser Punkt ist viel leichter zum Akupunktieren. Spürbar gut in Selbstmassage, wenn die schlechte Sicht mit Kopfschmerzen und Ermüdung einhergeht oder morgens bei verschwommener Sicht nach dem Aufstehen.

EX-HN 2„Yin Tang“ „Siegelhalle“

Dieser Punkt ist als drittes Auge bekannt. Ein ausgleichender Punkt zwischen Gefühl und Ratio: Hier kann das angeblich objektive Sehen zur Einsicht werden.

EX-HN-6 „Yuyao“ „Fischrücken“

Dieser Punkt kann das Leberblut nähren und die Sicht verbessern, wenn sie bei Müdigkeit und langer Arbeit an Bildschirmen abnimmt. Adjudativ empfehle ich Brennnesseln als Infus und lang gekochte Suppen gerne auch mit etwas Rindfleisch.

EX-HN 8„Qiuhou“ „Hinter der Kugel“

Ein guter Punkt zum Ernähren des Auges mit einer ähnlichen Wirkung wie Magen 1.

Magen 36 und Milz 6

Beide Punkte stärken die Erd-Energie und bilden somit die Basis für die Versorgung der Augen. Die Augen können nur gut versorgt sein, wenn es keinen Mangel im Körper gibt.

Augenakupressur

Eine tägliche Augenmassage (gerne dreimal) unterstützt die Sehkraft ungemein und ist für einen Behandlungserfolg unerlässlich (wer geht schon dreimal täglich zur Akupunktur?). Folgende drei Punkte sollten dabei stimuliert werden: Blase 1, M-HN9 (Taiyang) und Gallenblase 20. Desweiteren werden die Augenbrauen mit den Knöcheln der geballten Faust massiert.

Der KlientIn sollten die weiteren individuell ausgleichenden Punkte vermittelt werden.

Auch das sogenannte Palmieren der Augen erfrischt und entspannt die Augen. Dabei werden die Hände durch Reiben an den Nieren aufgeladen. Abermals können die Hände gegeneinander energetisiert werden. Nun die Hände vor die Augen stützen oder anders ausgedrückt: die Augen in die Augen der Hände (Pericard 8) legen. Menschen mit Sehschwäche, die am Bildschirm arbeiten, wird empfohlen, jede Stunde eine Pause einzulegen und diese Übung auszuführen. Anderen tut dies auch gut!

Ernährung

Die Augen wollen gut ernährt werden. Insbesondere ein Mangel an Vitamin D, B12 und A kann sich negativ auf die Sehkraft auswirken.

Karotten – gekocht und mit Öl – bleiben unschlagbar, was die Versorgung mit der Vitamin Vorstufe A angeht. Desweiteren sind für die Sicht föderlich: Heidelbeeren und Leinöl.

Vitamin D lädt zur täglichen Bewegung an der frischen Luft ein – Bewegung fördert die Durchblutung und somit auch die Versorgung der kleinen Blutgefäße der Augen.

Schädlich für die Augen ist Zucker und insbesondere Quecksilber, Blei und Phosphate, beispielsweise aus landwirtschaftlichen Chemikalien.

Pralinen für die Augen

Ein ungewöhnliches Rezept – für unterwegs und zur Abhilfe bei kleinen Unterzuckerungszeiten bei der Arbeit: vegane und zuckerfreie Energiebällchen. Als Augenfutter sind Gojibeeren, Maulbeerfrüchte, Datteln oder Dattelbrot, getrocknete Aprikosen, Kakao und Walnüsse – gemischt auch je nach Geschmacksvorlieben – dabei. Gojibeeren (Fructus lycii) stärken die Nieren- und die Leber-Energie. Zudem tonisieren sie das Blut und die Essenz und haben einen Bezug zu den Augen. Sie sind ebenso wie Walnüsse auch als Anti-Aging-Tipp bekannt.

Die Maulbeerfrüchte und Gojifrüchte werden eingeweicht und dann ausgedrückt. Die Aprikosen gegebenenfalls auch, wenn sie sehr hart sind. Alle Zutaten werden sehr klein geschnitten oder noch besser püriert. Dann zu einem Teig kneten und in Kakao wälzen. Im Internet gibt es dazu viele Varianten. Für die Augen ist es wichtig, dass es zuckerfrei bleibt. Am besten im Kühlschrank aufbewahren und genießen!

Phythotherapie

In der TCM findet sich als Teemischung „Die Sicht klärender Tee“ mit Lycii fructus und Chrysanthemi flos (Qiju mingmu cha)(3).

Die Mischung enthält 15-30 g Lycii fructus (s.o.), 10 g Chrysanthemi flos und 3 g grünen Tee. Bei einer Schwäche von Milz und Magen empfehle ich den grünen Tee durch Kamille zu ersetzen.

Der Tee wirkt befeuchtend für die Wasser-Energie, kühlt und nährt die Leber.

Durch die Kamille kommt eine wärmende Pflanze mit Bezug zur Erd-Energie dazu, die auch entkrampfend wirkt.

Bitte bedenken Sie, dass eine Altersweitsichtigkeit auch die Vorstufe eines Grauen Stars sein kann und ich empfehle eine begleitende schulmedizinische Abklärung.

Für den Blick in die Welt wünsche ich Ihnen bessere Sicht, alles Gute und immer einen Grund zur Freude

Nathali Winckler www.winckler-tcm.de

Fußnoten:

  1. Fatrai,A. / Uhrig,St. (2005): Chinesische Medizin in der Augenheilkunde. S. 55.
  2. Eine umfassendere Erläuterung findet sich bei Lorenzen,U./ Noll, A. (1992): Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin. Band 1 Die Wandlungsphase Holz. Verlag Müller& Steinicke München.
  1. Die Übersetzungen der Punktenamen stammen alle aus dem Buch von J.V. Müller 2004): Den Geist verwurzeln. Band1. Verlag Müller& Steinicke. München.
  2. Fatrai,A., Uhrig,St. (Hg)( 2005.): s.o..S.142
  3. Ich empfehle das Buch von J.Scott (2007): Akupunktur in der Behandlung von Augenerkrankungen. Verkag für Ganzheitliche Medizin. Bad Kötzting.

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